„Oh Mann, packend, wahnsinnig, berührend, fesselnd, sehr gut, …“, um nur einige Kommentare von anwesenden Schülerinnen und Schülern zu Mario Rölligs Vortragsreihe an der Franz-Oberthür-Schule zu zitieren. In drei 90-minütigen Veranstaltungen berichtete der DDR-Zeitzeuge Mario Röllig sehr eindringlich, nachvollziehbar, punktuell auch humorvoll von seinem Leben in der DDR und seinen Erfahrungen mit der Stasi, dem Staatssicherheitsdienst der DDR. Dabei gewährte er den insgesamt ca. 400 Anwesenden tiefe Einblicke in sein privates Leben.
1967 in Ost-Berlin geboren, berichtete Mario Röllig zunächst von seiner Schulzeit, die politisch und militaristisch geprägt war. So beschreibt er beispielsweise die Aufgabenstellungen im Mathematikunterricht, in der man nicht Äpfel und Birnen, sondern Panzer und Maschinengewehre zusammenzählte, bzw. den Sportunterricht, in dem man nicht mit Bällen, sondern mit Handgranatenattrappen Weitwurf übte. Er erzählte auch vom montäglichen Fahnenappell bei Wind und Wetter, bei dem ein Fahnenkult zelebriert wurde, indem die Pionier- und FDJ-Fahne durch ein „Fahnenkommando“ hereingetragen wurde. Mit dem „Pioniergruß bzw. dem FDJ-Gruß“ wurde vor der Fahne salutiert. Die Fahne genoss höchste Autorität und stand als Symbol für die einheitliche ideologische Ausrichtung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
An einem dieser Montage im Jahr 1974 sollte sich die bis dahin unbeschwerte und schöne Kindheit von Mario Röllig als Erstklässler plötzlich ändern. Während seine Mitschüler wieder einmal alle in ihren blauen Hemden zum Fahnenappell antraten, präsentierte sich Mario Röllig voller Stolz mit seinem gelben „Franz Beckenbauer-T-Shirt“, das ihm seine Tante aus dem Westen geschickt hatte. Kindlich unbeschwert konnte er nicht ahnen, was Sport mit Politik zu tun haben sollte. Doch dieser Auftritt hatte für ihn Konsequenzen: die Lehrerin stellte ihn in seiner Klasse regelrecht bloß, er durfte das T-Shirt fortan an diesem Tag nur linksherum tragen und seine Eltern wurden zur Schulleitung zitiert. Das war das letzte Mal, dass er sein gelbes T-Shirt in der Öffentlichkeit trug und es war der Startschuss für seine Stasi-Akte, von der er erst viele Jahre später erfahren sollte.
Trotz guter Noten durfte er kein Abitur machen und konnte sich nach Abschluss der Schule nicht etwa eine Ausbildungsstelle frei aussuchen, sondern er wurde zur Arbeit gezwungen. Er absolvierte schließlich um systemisch nicht als „faul und asozial“ zu gelten eine Ausbildung zum Restaurantfachmann am Flughafen Berlin Schönefeld. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in der DDR verdiente und lebte er sehr gut. Im Alter von 17 Jahren verliebte er sich in einen West‑Berliner Politiker. Er wurde denunziert und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) versuchten ihn daraufhin, als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben. Weil er es ablehnte, andere Menschen zu bespitzeln, wurde er massiv unter Druck gesetzt. Im Juni 1987 versuchte er deshalb, und um endlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Dabei wurde er von einem ungarischen Kopfgeldjäger gestellt, verhaftet und dem DDR‑Staatssicherheitsdienst übergeben. Eine Woche in Einzelhaft in einem „feuchten und nach Urin stinkenden Kellerloch“ eines ungarischen Gefängnisses nahm Mario Röllig nicht nur 10 kg ab, sondern bangte um sein junges Leben.
Er kam wegen des „Versuchs des ungesetzlichen Grenzübertritts“ in das Untersuchungsgefängnis des MfS nach Berlin‑Hohenschönhausen. Nach drei Monaten unmenschlichen Psychoterrors und Folter, in denen ihm nur die im Freigang am blauen Himmel manchmal sichtbaren „PANAM-Flugzeuge Freiheit und Frieden vermitteln konnten“, wurde er aufgrund einer allgemeinen Amnestie sowie gegen Devisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Gerichtsverfahren wurde mit der Auflage „drei Jahre auf Bewährung“ eingestellt.
Weil persönliche und berufliche Repressalien nicht aufhörten, stellte er schließlich einen Ausreiseantrag für West-Deutschland, bis er am 8. März 1988 schließlich aus der DDR ausgebürgert wurde. Diesen Tag feiert Mario Röllig bis heute als seinen zweiten Geburtstag. Seitdem lebt er in West-Berlin, wo er 1989 auch den Mauerfall erlebte. Dieser jährte sich 2019 zum 30. Mal. Mario Röllig freute sich damals über dieses unfassbare Ereignis, aber insgeheim verspürte er Angst. Angst dem System und seinen Tätern erneut ausgeliefert zu sein.
Es blieb nicht unerwähnt, dass Mario Röllig der juristische und moralische Umgang mit den damaligen Tätern, die oft straffrei ausgingen, sehr enttäuscht hat. Er schilderte ein zufälliges Treffen mit einem seiner Täter, bei dem er all seinen Mut zusammennahm, um ihm eine Entschuldigung abzuringen. Die Reaktion des Täters war „so nicht zu erwarten, aber typisch für diese Menschen in allen Regimen“: Er schrie Herrn Röllig an, „was er sich erlaube, ihn anzusprechen. Schließlich habe ER doch geltende Gesetze gebrochen und er habe als Polizist nur seine Pflicht getan.“. In all den Verhören mit diesem Täter begann Herr Röllig irgendwann die auf der Wandtapete gedruckten Blätter zu zählen. „Wenn ich mich nicht verzählt habe, waren es 584 Blätter. … Was man nicht alles tut, um dem immensen Verhördruck Stand zu halten sowie Familie und Freunde nicht zu verpfeifen.“
Besonders am Herzen lag Mario Röllig auch der Hinweis darauf, dass er 1988 ein Flüchtling war und in der damaligen Bundesrepublik Deutschland eine offene Aufnahme und eine Chance bekommen hatte, wofür er extrem dankbar und glücklich war und ist. Er gab zu bedenken, dass sich auch heute viele Menschen diese Chance wünschten. Schließlich verlasse man seine Heimat und Familie nicht „einfach mal so“. Nur schwerwiegende, katastrophale, existenzbedrohende Gründe führten einen Menschen zur Flucht.
Mario Röllig engagiert sich heute in der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS)“ für die Aufarbeitung der SED‑Diktatur. Er lebt in Berlin und führt seit 1999 Besucher durch die Gedenkstätte Berlin‑Hohenschönhausen. Außerdem ist er seit 2019 Vorsitzender des Landesverbandes Berlin der Lesben und Schwulen in der Union (LSU).
03.01.2020
Text und Bild: Simone Aslanidis